Jugend
Wanderschaft
Es ist gar nicht leicht zu sagen, wo ich eigentlich zu Hause bin. Mein Vater wurde als Gendarm wiederholt versetzt, so dass wir viel auf Wanderschaft waren, bis wir 1937, als er mit sechzig Jahren in Pension ging, das Haus in Hufschlag bei Traunstein beziehen konnten, das dann unsere eigentliche Heimat geworden ist. Aber auch alles Wandern vorher blieb in einem begrenzten Radius: im Inn-Salzach-Dreieck, dessen Landschaft und Geschichte meine Jugend geprägt hat.
Joseph Kardinal Ratzinger, Aus meinem Leben, 1998
Geboren in Marktl am Inn
Geboren bin ich am Karsamstag, dem 16. April 1927, zu Marktl am Inn. Dass der Geburtstag der letzte Tag der Karwoche und der Vorabend von Ostern war, wurde in der Familiengeschichte immer vermerkt, denn damit hing es zusammen, dass ich gleich am Morgen meines Geburtstages mit dem eben geweihten Wasser in der zu jener Zeit am Vormittag gefeierten "Osternacht" getauft worden bin: Der erste Täufling des neuen Wassers zu sein, wurde als eine bedeutsame Fügung angesehen.[...]
Da wir Marktl bereits zwei Jahre nach meiner Geburt – 1929 – verlassen haben, ist mir keine eigene Erinnerung daran geblieben, nur die Erzählung meiner Eltern und Geschwister. Sie haben mir von dem tiefen Schnee und der klirrenden Kälte berichtet, die an meinem Geburtstag herrschten, so dass die beiden älteren Geschwister zu ihrer grossen Betrübnis nicht mit zu meiner Taufe kommen durften, um der Erkältungsgefahr entgegenzuwirken.
Joseph Kardinal Ratzinger, Aus meinem Leben, 1998
Der Vater und die Mutter
Mein Vater war ein sehr gerechter, aber auch ein sehr strenger Mann. Aber wir haben immer gespürt, dass er streng war aus Güte. Und deswegen konnten wir seine Strenge wirklich gut annehmen. Die Mutter hat immer schon das, was an ihm vielleicht zu streng war, durch ihre Wärme und Herzlichkeit ausgeglichen. Es waren zwei sehr verschiedene Temperamente, die sich gerade durch ihre Verschiedenheit auch sehr gut ergänzt haben. Streng war er, das muss ich sagen, aber es war doch viel Wärme und Herzlichkeit und Freude da, die dadurch vermehrt wurden, dass wir miteinander gespielt haben, auch die Eltern haben mitgemacht, dass gerade auch Musik eine immer grössere Rolle im Familienleben hatte, die ja auch eine zusammenführende Kraft hat.
Joseph Kardinal Ratzinger, Salz der Erde, 1996
Beziehung zum Vater
Ich hatte allerdings zu meinem Vater ein sehr enges Verhältnis. Das hat sich schon dadurch ergeben, dass er bereits in seinem letzten Dienstjahr längere Krankenurlaube genommen hatte. Es ging ihm ja das Dritte Reich furchtbar gegen den Strich, und er hat versucht, so früh wie möglich vom Dienst wegzukommen. In diesen Monaten ist er viel mit mir gewandert. Da sind wir einander sehr nahe gekommen. Als dann alle drei Kinder studierten und es für die Familie nach der Pensionierung des Vaters finanziell sehr schwer wurde, so dass die Mutter noch einmal als Köchin zur Saisonarbeit nach Reit im Winkl gegangen ist, war ich mit dem Vater allein zu Hause. Er hat sehr viel erzählt, er hatte eine grosse erzählerische Begabung. Wandernd und erzählend sind wir also einander sehr nahe gekommen. Und auch die religiöse Linie sowie seine dezidierte Gegnerschaft gegenüber dem Regime haben uns überzeugt. Seine einfache Überzeugungskraft kam aus einer inneren Redlichkeit heraus. So wurde uns seine Haltung vorbildlich. Obwohl sie gegen das stand, was öffentlich gegolten hatte.
Joseph Kardinal Ratzinger, Salz der Erde, 1996
2. Station: Tittmoning
Die zweite Station unserer Wanderschaft war Tittmoning, die kleine Stadt an der Salzach, deren Brücke zugleich die Grenze von Österreich bildet. Tittmoning, architektonisch ganz vom Salzburgischen her geprägt, ist das Traumland meiner Kindheit geblieben. [...] Besonders die nächtens beleuchteten weihnachtlichen Auslagen der Geschäfte sind mir wie eine wunderbare Verheissung in Erinnerung geblieben.[...] Die Gendarmerie und damit auch unsere Wohnung war in dem wohl schönsten Haus am Stadtplatz untergebracht, das einst dem Stiftskapitel gehört hatte. Freilich – die Schönheit der Fassaden verbürgt kein bequemes Wohnen. Das Pflaster der Böden war brüchig, die Stiegen hoch, die Zimmer verwinkelt. Küche und Wohnzimmer waren eng, dafür war das Schlafzimmer der ehemalige Kapitelssaal, was auch nicht gerade bequem gewesen ist.
Joseph Kardinal Ratzinger, Aus meinem Leben, 1998
Nicht arm, aber sparsam und einfach
Wir waren nicht arm in strengen Sinn des Wortes, weil das monatliche Gehalt garantiert war. Aber wir mussten doch sehr sparsam und einfach leben, wofür ich sehr dankbar bin. Denn gerade dadurch entstehen Freuden, die man im Reichtum nicht haben kann. ich denke oft zurück , wie schön es war, wie wir uns über die kleinsten Dinge freuen konnten und wie man füreinander auch etwas zu tun versucht hat. Wie gerade auch durch diese sehr bescheidene, finanziell auch angespannte Situation eine innere Solidarität entstanden ist, die uns tief aneinander gebunden hat.
Joseph Kardinal Ratzinger, Salz der Erde, 1996
Aschau am Inn
Im Dezember [1932], kurz vor Weihnachten, bezogen wir unsere neue Heimat in Aschau am Inn, einem behäbigen Bauerndorf mit grossen, ansehnlichen Höfen. Mutter war von der schönen Wohnung angenehm überrascht, die uns nun zugedacht war. Ein Bauer hatte eine nach damaligen Massstäben moderne Villa mit Erker und Balkon erbaut und an die Gendarmerie vermietet. Die Amtsräume und die Wohnung des zweiten Gendarmen befanden sich im Parterre. Uns war der erste Stock zugewiesen, in dem wir ein heimeliges Zuhause fanden. Ein Vorgarten mit einem schönen Wegkreuz gehörte zu der Villa, dazu eine grosse Wiese mit einem Karpfenteich, in dem ich übrigens beim Spielen beinahe einmal ertrunken wäre.
Joseph Kardinal Ratzinger, Aus meinem Leben, 1998
Religion
Die Religion war ein Bestandteil des Lebens. Schon durch das gemeinsame Gebet. Zu allen Mahlzeiten wurde gebetet. Wenn es irgendwie vom Schulrhythmus her möglich war, gingen wir natürlich auch jeden Tag in die Messe und am Sonntag gemeinsam in den Gottesdienst. Später, als mein Vater pensioniert war, wurde meistens auch der Rosenkranz gebetet; ansonsten hat man der schulischen Katechese vertraut. Der Vater hat uns auch Lektüre gekauft; es gab zum Beispiel Zeitschriften bei der Erstkommunion. Aber es war nicht so, dass explizit religiös erzogen wurde, sondern es war durch das Familiengebet und durch den Kirchenbesuch gegeben.
Joseph Kardinal Ratzinger, Salz der Erde, 1996
Liturgie
Unsere Eltern haben uns früh geholfen, den Zugang zur Liturgie zu finden: Es gab ein an das Missale angelehntes Kindergebetbuch, in dem der Fortgang der heiligen Handlung in Bildern dargestellt war, so dass man dem Geschehen gut folgen konnte. Dazu gab es jeweils ein Gebetswort, in dem das Wesentliche der einzelnen Abschnitte der Liturgie aufgenommen und kindlichem Beten zugänglich gemacht war. Als nächste Stufe erhielt ich einen Schott für die Kinder, in dem schon die wesentlichen Texte der Liturgie selbst abgedruckt waren; dann den Sonntags-Schott, in dem nun die Liturgie der Sonn- und Feiertage vollständig dargeboten wurde, schliesslich das vollständige Messbuch für alle Tage. Jede neue Stufe im Zugehen auf die Liturgie war ein grosses Ereignis für mich. Das jeweils neue Buch war eine Kostbarkeit, wie ich sie mir nicht schöner träumen konnte. Es war ein fesselndes Abenteuer, langsam in die geheimnisvolle Welt der Liturgie einzudringen, die sich da am Altar vor uns und für uns abspielte.
Joseph Kardinal Ratzinger, Aus meinem Leben, 1998
Traunstein
Mit Blick auf seine Pensionierung hat mein Vater ein altes, ebenfalls sehr einfaches Bauernhaus in Hufschlag bei Traunstein gekauft. Statt Wasser aus der Leitung gab es hier einen Brunnen, was hochromantisch gewesen ist. Auf der einen Seite des Hauses stand ein Eichenwald mit Buchen durchmischt, auf der anderen Seite waren die Berge, und wenn wir morgens die Augen aufgemacht haben, konnten wir als erstes die Berge sehen. Nach vorne wiederum hatten wir Apfelbäume, Zwetschgenbäume und viele Blumen, die meine Mutter im Garten gezogen hat. Es war ein schönes, grosses Grundstück – von der Lage her himmlisch. Und in den alten Scheunen konnte man die herrlichsten Träume erleben und wunderbar spielen.
Joseph Kardinal Ratzinger, Salz der Erde, 1996
Erste Klasse des "humanistischen Gymnasiums"
Mit dem Umzug nach Traunstein begann aber für mich auch ein neuer Ernst. Wenige Tage nach der Ankunft öffnete die Schule ihre Pforten; ich ging nun in die erste Klasse des "humanistischen Gymnasiums", das man heute als altsprachliches Gymnasium bezeichnen würde. Ich hatte einen Schulweg von einer halben Stunde, der reichlich Zeit zum Schauen und Sinnieren, aber auch zum Wiederholen des in der Schule Erlernten gab. Die Aschauer Volksschule hatte am Schluss wenig geboten. Nun fand ich mich einer neuen Disziplin und einem neuen Anspruch ausgesetzt, zumal ich der Jüngste und einer der Kleinsten in der ganzen Klasse war. Noch wurde Latein als Basis des ganzen Unterrichts in alter Strenge und Gründlichkeit gelehrt, wofür ich ein Leben lang dankbar geblieben bin.
Joseph Kardinal Ratzinger, Aus meinem Leben, 1998
Vorbilder
Dass ich deutliche Vorbilder gehabt habe, könnte ich eigentlich gar nicht sagen. Wie es eben bei Kindern ist, wechseln da die Vorstellungen oft recht extrem. Irgendwann hat mir ein Anstreicher, der die Wand gemalt hat, so imponiert, dass ich dem also nacheifern wollte. Als später einmal der Kardinal Faulhaber in unsere Gegend kam, mit seinem gewaltigen Purpur, hat der mir natürlich um so mehr imponiert, so dass ich gesagt habe, so was möchte ich werden. [...] Daran sieht man, dass ein Kind das gar nicht abmisst, sondern vom Optischen ausgeht. Ziemlich früh, schon in der Volksschule, ist auch die Lust am Lehren in mir erwacht. Insofern waren Lehrer schon Vorbilder. Der Wunsch hat sich Gott sei Dank auch mit dem Gedanken an das Priestertum sehr gut verbinden lassen. Aber ich würde sagen, das Lehren, das Weitergeben von Erkanntem, das war mir sehr früh etwas, was mich angeregt hat, und auch das Schreiben. Ich habe schon in der Volksschule angefangen zu schreiben, Gedichte zu machen und so weiter.
Joseph Kardinal Ratzinger, Salz der Erde, 1996
Im Knabenseminar
Zwei Jahre lang war ich mit grosser Freude Tag um Tag von zu Hause in die Schule gegangen, aber nun drängte der Pfarrer darauf, ich müsse ins Knabenseminar eintreten, um wirklich systematisch ins geistliche Leben eingeführt zu werden. [...] So wurde der Entschluss gefällt, und ich trat an Ostern 1939 ins Seminar ein, freudig und mit grossen Erwartungen, weil mein Bruder viel Schönes davon erzählt hatte und weil ich mit den Seminaristen meiner Klasse in guter Freundschaft lebte.
Aber ich gehöre zu den Menschen, die nicht fürs Internat geschaffen sind. Ich hatte in grosser Freiheit zu Hause gelebt, studiert, wie ich wollte, und meine eigene kindliche Welt gebaut. Nun in einem Studiersaal mit etwa sechzig anderen Buben eingefügt zu sein, war für mich eine Folter, in der mir das Lernen, das mir vorher so leicht gewesen war, fast unmöglich erschien. Die grösste Belastung aber war es für mich, dass – einer fortschrittlichen Idee von Erziehung folgend – jeden Tag zwei Stunden Sport auf dem grossen Spielplatz des Hauses vorgesehen waren. Da ich sportlich nun einmal ganz unbegabt bin und überdies als der Jüngste unter den Mitschülern, die bis zu drei Jahren älter waren als ich, fast allen an Kräften weit unterlegen war, wurde dies zu einer wahren Folter für mich. Ich muss eigens sagen, dass meine Kameraden sehr tolerant waren, aber es ist auf die Dauer nicht schön, von der Toleranz der anderen leben zu müssen und zu wissen, dass man für die Mannschaft, der man zugeteilt wird, nur eine Belastung darstellt.
Joseph Kardinal Ratzinger, Aus meinem Leben, 1998
Goethe, Schiller und Co.
Die griechischen und lateinischen Klassiker begeisterten mich, auch Mathematik war mir inzwischen liebgeworden. Vor allem aber entdeckte ich nun die Literatur. Ich las hingerissen Goethe, während Schiller mir ein wenig zu moralistisch erschien und liebte besonders die Schriftsteller des 19. Jahrhunderts: Eichendorff, Mörike, Storm, Stifter, während andere wie Raabe und Kleist mir eher fremd blieben. Natürlich begann ich auch selber eifrig zu dichten und wandte mich mit neuer Freude den liturgischen Texten zu, die ich besser und lebendiger aus dem Urtext zu übertragen versuchte. Es war eine hochgemute Zeit, voll Hoffnung auf das Grosse, das sich in der unermesslichen Welt des Geistes immer mehr erschloss.
Joseph Kardinal Ratzinger, Aus meinem Leben, 1998
Kriegsausbruch
Die unmittelbare Folge des Kriegsausbruches war, dass das Knabenseminar zum Lazarett erklärt wurde und ich wieder, nun zusammen mit meinem Bruder, von zu Hause aus in die Schule gehen konnte. Aber der Direktor fand Ausweichquartiere, zunächst im Kurhaus der Stadt, dann in dem Mädchen-Institut der Englischen Fräuleins zu Spraz hoch über der Stadt. Da die Nazis die Klosterschulen geschlossen hatten, stand das Haus weitgehend leer, und die Seminargemeinschaft konnte nun dort unterkommen. Aber es gab keinen Sportplatz, stattdessen wanderten wir nachmittags zusammen in den weiten Wäldern der Umgebung und spielten an dem nahen Gebirgsbach. Stauwerke wurden gebaut, Fische gefangen usw. Es war ein recht fröhliches Bubenleben. Hier habe ich mich mit dem Seminar versöhnt und eine schöne Zeit verlebt. Ich musste lernen, mich ins Ganze einzufügen, aus meiner Eigenbrötelei herauszutreten und im Geben und Empfangen eine Gemeinschaft mit den anderen zu bilden: Für diese Erfahrung bin ich dankbar, sie war wichtig für mein Leben.
Joseph Kardinal Ratzinger, Aus meinem Leben, 1998
Keine Hitler-Jugend
Wir waren zunächst nicht dabei, mit der Einführung der Pflicht-HJ [Pflicht-Hilterjugend] 1941 wurde allerdings mein Bruder pflichtmässig aufgenommen. Ich war noch zu jung, wurde aber später vom Seminar aus in die HJ hineingemeldet. Sobald ich aus dem Seminar weg war, bin ich nie mehr hingegangen. Und das war schwierig, weil die Schulgeldermässigung, die ich wirklich nötig hatte, mit dem Nachweis des HJ-Besuchs verbunden war. Da gab es aber Gott sei Dank einen sehr verständnisvollen Mathematik-Lehrer. Er war selber ein Nazi, aber ein redlicher Mann, der zu mir gesagt hat: "Geh doch einmal hin, damit wir das haben..." Als er sah, dass ich einfach nicht mochte, hat er gemeint: "Ich versteh dich, ich bring das in Ordnung", und so konnte ich davon frei bleiben.
Joseph Kardinal Ratzinger, Salz der Erde, 1996
Einzug für die Flak
Ich war nun [1943] zwar faktisch längst nicht mehr im Internat, gehörte aber doch juristisch dem Traunsteiner Knabenseminar an. So wurde die kleine Gruppe der Seminaristen meiner Klasse – die Jahrgänge 1926 und 1927 – zur Flak (Batterien der Flugabwehr) nach München einberufen. Mit sechzehn Jahren musste ich jetzt ein sehr eigenartiges "Internat" auf mich nehmen. Wir wohnten in Baracken wie die regulären Soldaten, die freilich in der Minderzahl waren, wurden in ähnliche Uniformen gesteckt und hatten im wesentlichen denselben Dienst zu tun, nur mit dem Unterschied, dass wir nebenher auch noch einen reduzierten Unterricht genossen, den die Lehrer des renommierten Münchener Maximilian-Gymnasiums erteilten.
Joseph Kardinal Ratzinger, Aus meinem Leben, 1998
Erfahrungen bei der Flak
Ich brauche nicht eigens zu sagen, dass die Zeit bei der Flak mancherlei Unbill mit sich brachte, besonders für einen so unmilitärischen Menschen, wie ich es bin. Ich gehörte jetzt der Telefonvermittlung zu, und der Unteroffizier, der uns vorstand, verteidigte unerbittlich die Autonomie unserer Gruppe. Wir waren von allen militärischen übungen frei, und niemand wagte, sich in unsere kleine Welt einzumischen. Die Autonomie erreichte ihren Höhepunkt, als ich meine Wohnstelle in der Nachbarbatterie zugewiesen erhielt und aus unerfindlichen Gründen sogar einen Raum ganz für mich allein hatte – sozusagen ein richtiges, wenn auch primitives Einzelzimmer. Ausserhalb meiner Dienststunden konnte ich nun tun und lassen, was ich wollte, und mich ungehindert meinen Interessen hingeben. Ausserdem war da eine erstaunlich grosse Gruppe von aktiven Katholiken, die sogar Religionsunterricht organisierten und gelegentlich Kirchenbesuche durchsetzten. So ist mir dieser Sommer paradoxerweise als eine herrliche Zeit eines weiterhin unabhängigen Dasein ins Gedächtnis eingeschrieben.
Joseph Kardinal Ratzinger, Aus meinem Leben, 1998
Einberufung zum Reichsarbeiterdienst
Am 10. September 1944 wurden wir, inzwischen ins militärische Alter gekommen, aus der Flak entlassen, in der wir ja als Schüler gedient hatten. Als ich heimkam, lag schon die Einberufung zum Reichsarbeiterdienst auf dem Tisch. Am 20. September führte eine endlose Fahrt ins Burgenland, wo wir – viele Freunde des Traunsteiner Gymnasiums waren dabei – im Dreiländereck österreich/Tschechoslowakei/Ungarn – unser Lager zugewiesen erhielten. Die Wochen beim Arbeitsdienst sind für mich eine bedrückende Erinnerung. Unsere Vorgesetzten waren grossenteils ehemalige Angehörige der sogenannten österreichischen Legion, also Alt-Nazis, die unter Bundeskanzler Dollfuss im Gefängnis gesessen waren, fanatische Ideologen, die uns kräftig tyrannisierten. Eines Nachts wurden wir aus den Betten geholt und im Trainingsanzug, halb schlaftrunken, versammelt. Ein SS-Offizier liess jeden einzelnen vortreten und versuchte, unter Ausnutzung unserer Müdigkeit und durch die Blossstellung eines jeden vor der versammelten Gruppe, "freiwillige" Meldung zur Waffen-SS zu erzwingen. Eine ganze Reihe von gutmütigen Kameraden ist so in diese verbrecherische Gruppe hineingepresst worden. Mit einigen anderen hatte ich das Glück, sagen zu können, dass ich die Absicht hege, katholischer Priester zu werden. Wir wurden mit Verhöhnungen und Beschimpfungen hinausgeschickt. Aber diese Beschimpfungen schmeckten grossartig, denn sie befreiten uns von der Drohung dieser verlogenen "Freiwilligkeit" und von all ihren Folgen.
Joseph Kardinal Ratzinger, Aus meinem Leben, 1998
Entlassung aus dem Arbeitsdienst
Es war üblich, dass Arbeitsdienstleute beim Herannahen der Front einfach ins Militär übernommen wurden. Damit rechneten wir. Aber zu unserem dankbaren Erstaunen kam es anders. Zuletzt waren auch die Arbeiten am Südostwall eingestellt worden, und wir wohnten ohne nähere Bestimmung in unserem Lager, in dem das Kommandogeschrei verstummt war, und eine seltsame dumpfe Stille herrschte. Am 20. November [1944] erhielten wir die Koffer mit unseren Zivilgewändern zurück und wurden in die Eisenbahn verfrachtet, die uns in einer immer wieder von Fliegeralarm unterbrochenen Fahrt nach Hause brachte.
Joseph Kardinal Ratzinger, Aus meinem Leben, 1998
Erneute Einberufung nach München
Das Klima, das ich in der Kaserne antraf, unterschied sich in angenehmer Weise von demjenigen beim Arbeitsdienst. Zwar war der Kompanie-Chef ein Schreier und offenbar immer noch gläubig dem Nazismus ergeben. Aber unsere Ausbilder waren erfahrene Männer, die die Schrecken des Krieges an der Front erfahren hatten und uns die Sache nicht schwerer machen wollten, als sie ohnedies war. In gedrückter Stimmung feierten wir Weihnachten auf unserer Bude. Mit uns Jungen dienten im selben Trupp mehrere Familienväter, die auf das 40. Lebensjahr zugingen und die trotz gesundheitlichen Behinderungen nun im letzten Kriegsjahr noch zu den Waffen gerufen worden waren. Ihr Heimweh nach Frau und Kind griff mir ans Herz.
Joseph Kardinal Ratzinger, Aus meinem Leben, 1998
Desertiert
Ende April oder Anfang Mai [1945] – ich weiss es nicht mehr genau – entschloss ich mich, nach Hause zu gehen. Ich wusste, dass die Stadt von Soldaten umstellt war, die den Befehl hatten, Fahnenflüchtige auf der Stelle zu erschiessen. Deshalb benutzte ich einen wenig bekannten Nebenweg aus der Stadt heraus, in der Hoffnung, hier ungeschoren durchzukommen. Aber als ich aus einer Bahnunterführung heraustrat, standen da zwei Soldaten auf Posten, und für einen Augenblick war die Lage äusserst kritisch für mich. Es waren gottlob solche, die auch den Krieg satt hatten und nicht zu Mördern werden wollten. Sie mussten freilich einen Vorwand suchen, um mich laufen lassen zu können. Wegen einer Verletzung trug ich den Arm in der Schlinge. So sagten sie: "Kamerad, du bist verwundet. Geh weiter." Auf diese Weise kam ich unversehrt nach Hause.
Joseph Kardinal Ratzinger, Aus meinem Leben, 1998
Ankunft bei seiner Familie in Traunstein
Am Tisch sassen Schwestern aus dem Kloster der Englischen Fräulein, mit denen meine Schwester sehr verbunden war. Sie studierten eine Landkarte und versuchten herauszubringen, wann wohl endlich mit der Ankunft der Amerikaner zu rechnen sei. Als ich eintrat, meinten sie, die Anwesenheit eines Soldaten sei ein sicherer Schutz für das Haus – das Gegenteil war natürlich der Fall. Im Lauf der folgenden Tage wurde zunächst ein Wachtmeister der Luftwaffe bei uns einquartiert, ein sympathischer Berliner Katholik, der freilich seltsamerweise mit einer uns ganz unerfindlichen Logik noch immer an den Sieg des "Deutschen Reiches" glaubte. Mein Vater, der ausgiebig mit ihm darüber stritt, konnte ihn schliesslich doch vom Gegenteil überzeugen.
Dann wurden zwei SS-Leute in unserm Haus untergebracht, und nun wurde die Loge auf doppelte Art gefährlich. Ihnen konnte nicht entgehen, dass ich im Soldatenalter war, und sie fingen auch an, nach meiner Situation zu forschen. Es war bekannt, dass SS-Männer in der Umgebung schon mehrere Soldaten, dich sich von ihrer Truppe entfernt hatten, auf Bäumen erhängt hatten. Ausserdem konnte mein Vater es nicht lassen, sofort seine ganze Wut über Hitler ihnen ins Gesicht zu sagen, was normalerweise für ihn tödlich hätte enden müssen. Aber ein besonderer Engel schien uns zu schützen. Die zwei verschwanden am nächsten Tag, ohne Unheil angerichtet zu haben.
Joseph Kardinal Ratzinger, Aus meinem Leben, 1998
Kriegsende und Gefangennahme
Endlich rückten die Amerikaner in unser Dorf ein. Obwohl unser Haus bar jeden Komforts war, erwählten sie es zu ihrem Hauptquartier. Ich wurde als Soldat identifiziert, musste die schon beiseite geräumte Uniform wieder anziehen, die Hände erheben und mich in die grösser werdende Schar von Kriegsgefangenen einreihen, die sie auf unserer Wiese aufstellten. Besonders die gute Mutter traf es ins Herz, ihren Buben und den Rest der geschlagenen Armee von schwer bewaffneten Amerikanern bewacht und gefangen mit ungewisser Bestimmung dastehen zu sehen. Wir hofften zwar auf schnelle Entlassung, aber Vater und Mutter steckten mir für den bevorstehenden Weg doch noch dies und jenes Nützliche zu, während ich selber ein grosses leeres Heft und einen Bleistift in die Tasche schob – eine scheinbar sehr unpraktische Wahl, aber gerade dieses Heft ist mir zu einem wunderbaren Begleiter geworden, weil ich Tag um Tag Gedanken und überlegungen aller Art hineinschreiben konnte; sogar in griechischen Hexametern habe ich mich versucht.
Joseph Kardinal Ratzinger, Aus meinem Leben, 1998
Kriegsgefangenschaft
Wir waren zu dieser Zeit auf dem Flugplatz in Aibling. Wir lagen die ganzen sechs Wochen meiner Gefangenschaft im Freien auf dem Boden, was nicht immer lustig war. Die Amerikaner konnten für diese riesigen Massen von Gefangenen keine Baracken oder Unterkünfte bereitstellen. Wir hatten keinen Kalender, nichts, wir haben mit Mühe jeden Tag das Datum rekonstruiert. Es gab auch keine Nachrichten. Uns ist dann nur aufgefallen, an dem 8. Mai [1945], dass die Amerikaner, die immer schon Leuchtmunition in die Luft geschossen hatten, plötzlich wie verrückt ein richtiges Feuerwerk veranstalteten. Dann ging das Gerücht, der Krieg sei zu Ende, Deutschland habe kapituliert. Da haben wir natürlich aufgeatmet, in der Hoffnung, dass nun auch die Entlassung näher rücken müsse und dass uns nichts mehr passieren könne. Allerdings kam auch sofort das Gerücht auf, wir sollten uns nicht zu früh freuen, die Amerikaner würden jetzt noch den Krieg gegen die Russen aufnehmen; wir würden wieder bewaffnet werden und gegen die Russen geschickt. Ich konnte mir allerdings nicht vorstellen, dass das Bündnis so schnell zerbrach und hatte das nicht geglaubt. Ich war einfach froh, dass der Krieg vorbei war, und habe mir nur gedacht, hoffentlich dauert die Sache hier nicht so lange.
Joseph Kardinal Ratzinger, Salz der Erde, 1996
Entlassung
Am 19. Juni 1945 hatte ich die verschiedenen Kontrollen und Untersuchungen zu passieren, bis ich überglücklich den Entlassungschein in Händen hielt, mit dem das Kriegsende nun auch für mich Wirklichkeit wurde.
Joseph Kardinal Ratzinger, Aus meinem Leben, 1998
Rückkehr aus der Gefangenschaft
In drei Tagen hofften wir, die etwa 120 km zu schaffen, die uns von zu Hause trennten. Unterwegs dachten wir bei Bauersleuten übernachten zu können und einen Imbiss zu erhalten. Wir hatten Ottobrunn passiert, als uns ein mit Holzgas betriebener Lastwagen überholte, der Milch geladen hatte. Wir waren beide zu schüchtern, um ihn anzuhalten, aber der Fahrer blieb von sich aus stehen und fragte, wo wir denn hin wollten. Er lachte, als wir Traunstein als Ziel angaben, denn er gehörte zu einer Traunsteiner Molkerei und war auf dem Weg nach Hause. So kam ich unerwartet noch vor Sonnenuntergang in die Heimatstadt; das himmlische Jerusalem hätte mir in diesem Augenblick nicht schöner erscheinen können. Aus der Kirche hörte ich Beten und Singen, es war Abend des Herz-Jesu-Freitags. So wollte ich nicht stören, trat nicht ein, sondern eilte heim, so schnell ich konnte. Mein Vater konnte es kaum fassen, als ich plötzlich wieder lebendig vor ihm stand; Mutter und Schwester waren in der Kirche. Auf dem Heimweg erfuhren sie von Mädchen, dass sie mich hatten vorübereilen sehen. In meinem Leben habe ich keine Mahlzeit mehr so köstlich gefunden wie das einfache Mahl, das die Mutter mir aus den Früchten des eigenen Gartens bereitete.
Freilich – zur vollen Freude fehlte noch etwas. Seit Anfang April hatte es keine Nachricht von meinem Bruder mehr gegeben. So stand eine stille Sorge in unserem Haus. Um so glücklicher waren wir, als an einem heissen Julitag plötzlich Schritte vernehmlich wurden und der so lang Vermisste, braun gebrannt von der Sonne Italiens, plötzlich wieder in unserer Mitte stand und nun auf dem Klavier dankbar und erlöst das "Grosser Gott, wir loben dich" intonierte. Die folgenden Monate der wiedergewonnen Freiheit, die wir nun erst so recht zu schätzen lernten, gehören zu den schönsten Erinnerungen meines Lebens.
Joseph Kardinal Ratzinger, Aus meinem Leben, 1998
Zerstörte "Teenagerjahre"
Meine Jahre als "Teenager" sind von einem unheilvollen Regime zerstört worden, das dachte, alle Antworten zu besitzen; sein Einfluss wuchs - er drang in die Schulen und in die zivilen Einrichtungen wie auch in die Politik und sogar in die Religion ein -, bevor man richtig erkannt hatte, um welches Ungeheuer es sich handelte. Es ächtete Gott und war auf diese Weise gegenüber allem Guten und Wahren verschlossen.
Ansprache an die Jugendlichen und Seminaristen im New Yorker Priesterseminar "Saint Joseph", 19. April 2008