Priestertum
Priesterweihe
Ich war glücklich, als ich endlich von dieser schönen, aber drückenden Last [Preisaufgabe] frei war und mich wenigstens die letzten zwei Monate ganz der Vorbereitung auf den grossen Schritt widmen konnte: die Priesterweihe, die uns Kardinal Faulhaber im Dom zu Freising am Peter- und Paulstag 1951 spendete. Wir waren über vierzig Kandidaten, die auf den Aufruf hin "Adsum" sagten: Ich bin da – an einem strahlendem Sommertag, der als Höhepunkt des Lebens unvergesslich bleibt. Man soll nicht abergläubisch sein. Aber als in dem Augenblick, in dem der greise Erzbischof mir die Hände auflegte, ein Vöglein – vielleicht eine Lerche – vom Hochaltar in den Dom aufstieg und ein kleines Jubellied trällerte, war es mir doch wie ein Zuspruch von oben: Es ist gut so, du bist auf dem rechten Weg.
Joseph Kardinal Ratzinger, Aus meinem Leben, 1998
Erste Priestererfahrungen
Nun folgten vier Sommerwochen, die wie ein einziges Fest waren. Am Tag der ersten heiligen Messe leuchtete unsere Pfarrkirche St. Oswald in ihrem schönsten Glanz, und die Freude, die den ganzen Raum fast greifbar ausfüllte, zog all in die lebendigste Weise "aktiver Teilnahme" am heiligen Geschehen hinein, die keiner äusseren Geschäftigkeit bedurfte. Wir waren eingeladen, den Primizsegen in die Häuser zu tragen, und wurden überall, auch von ganz unbekannten Menschen, mit einer Herzlichkeit empfangen, die ich mir bisher nicht hatte vorstellen können. So habe ich ganz unmittelbar erfahren, wie sehr Menschen auf den Priester warten, wie sehr sie auf den Segen warten, der aus der Kraft des Sakraments kommt. Da ging es nicht um meine Person oder die meines Bruders: Was hätten wir jungen Leute aus unserem Eigenen heraus schon den vielen bedeuten können, denen wir nun begegneten? Sie sahen in uns Menschen, die vom Auftrag Christi berührt waren und seine Nähe zu den Menschen tragen durften; so entstand, gerade weil es nicht um uns selber ging, auch ganz schnell eine freundliche menschliche Beziehung.
Joseph Kardinal Ratzinger, Aus meinem Leben, 1998
Erste Dienste als Kaplan
Gestärkt von der Erfahrung dieser Wochen konnte ich am 1. August [1951] meinen Dienst als Kaplan in der Pfarrei Hl. Blut zu München antreten. [...] Der von einem berühmten Architekten gebaute, aber zu klein geratene Pfarrhof war heimelig, wenn auch die Vielzahl der Leute, die darin in verschiedenen Funktionen als Hilfe mitarbeiteten, immer wieder etwas von Hektik aufkommen liess. Aber das Entscheidende war die Begegnung mit dem guten Pfarrer Blumschein, der nicht nur zu anderen sagte, ein Priester müsse "glühen", sondern wirklich ein innerlich glühender Mensch war. Bis zu seinem letzten Atemzug hat er mit allen Fasern seiner Existenz priesterlich dienen wollen: Er starb auf einem Versehgang. Seine Güte und seine innere Leidenschaft für den Auftrag gaben diesem Pfarrhof seine Prägung. Was im ersten Augenblick als Hektik erscheinen konnte, war in Wirklichkeit Ausdruck einer ständig gelebten Dienstbereitschaft.
Joseph Kardinal Ratzinger, Salz der Erde, 1996
Arbeitspensum als Kaplan
Ich hatte als Kaplan 16 Wochenstunden Religionsunterricht zu geben, und zwar in sechs verschiedenen Klassen, von der 2. bis zur 8. Das ist ein grosses Paket an Arbeit, noch dazu, wenn man ganz neu anfängt. Das war rein vom Zeitausmass her die Hauptbeschäftigung, die ich sehr liebgewonnen habe, weil ich sehr schnell ein gutes Verhältnis zu den Kindern hatte. Für mich war interessant, jetzt einmal aus der intellektuellen Sphäre herauszusteigen und zu lernen, mit Kindern zu reden. Es war etwas sehr schönes, die ganze abstrakte Begriffswelt so umzusetzen, dass es auch einem Kind etwas sagt.
Ich hatte jeden Sonntag drei Predigten, und zwar jeweils eine Kinderpredigt und zwei Erwachsenenpredigten. Erstaunlicherweise war der Kindergottesdienst der am besten besuchte überhaupt, weil hier nun plötzlich auch die Erwachsenen mitkamen. Ich war der einzige Kaplan und habe auch noch jeden Abend die ganze Jugendarbeit alleine gemacht. Ich hatte jede Woche Taufen und auch viele Beerdigungen.
Joseph Kardinal Ratzinger, Salz der Erde, 1996
Dozent am Priesterseminar und Dissertation
Die Berufung ans Freisinger Priesterseminar, die die Obrigkeit zum 1. Oktober 1952 verfügte, hat in mir unterschiedliche Empfindungen geweckt. Einerseits war dies die Lösung, die ich mir gewünscht hatte, um wieder zu meiner geliebten theologischen Arbeit zurückkehren zu können. Andererseits habe ich vor allem im ersten Jahr sehr unter dem Verlust der von der Seelsorge geschenkten Fülle menschlicher Beziehungen und Erfahrungen gelitten, so dass ich zu zweifeln begann, ob ich nicht doch besser hätte in der Pfarrseelsorge bleiben sollen. Das Gefühl, gebraucht zu werden und einen wichtigen Dienst zu tun, hatte mir geholfen, das äusserste zu geben, und mir die Freude am Priestertum geschenkt, die in der neuen Aufgabe so unmittelbar nicht zu erleben war. Ich hatte nun für die Studenten des letzten Jahres eine Vorlesung über die Pastoral der Sakramente zu halten und konnte dabei zwar nur aus einer bescheidenen, aber immerhin ganz nahen und frischen Erfahrung schöpfen. Dazu kamen Gottesdienste und Beichtstuhl im Dom sowie die Führung einer Jugendgruppe, die mein Vorgänger aufgebaut hatte. Vor allem aber war die Promotion zu Ende zu führen, die damals noch recht anspruchsvoll war. [...] Es war vor allem für Vater und Mutter eine grosse Freude, als im Juli 1953 dieser Akt über die Bühne ging und damit der theologische Doktorhut erworben war.
Joseph Kardinal Ratzinger, Salz der Erde, 1996
Angebot aus Freising
Es fügte sich, dass gerade mit dem Ende des Sommersemesters 1953 der Lehrstuhl für Dogmatik und Fundamentaltheologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule zu Freising frei wurde. [...] Das Freisinger Professorenkollegium liess mir erkennen, dass es an mich als Nachfolger dachte, aber ich wollte wenigstens ein Jahr noch in meiner bisherigen Stellung am Priesterseminar bleiben, die zwar auch ein Bündel von Verpflichtungen mit sich brachte, mir aber wesentlich mehr Freiheit für die Vorbereitung der Habilitation gab, als es bei der Position in der Hochschule der Fall gewesen wäre.
Joseph Kardinal Ratzinger, Aus meinem Leben, 1998
Habilitation und Lehrstuhlvertretung in Freising
Wieder ergab sich eine merkwürdige Fügung. Durch den Tod des emeritierten Philosophen der Hochschule wurde eine der Professorenwohnungen auf dem Domberg frei, und man drängte mich, zugleich mit der übernahme der Professur für Dogmatik auch eine Haushalt zu eröffnen und die Wohnung zu beziehen. Aber das ging mir zu schnell, zumal ja die Hauptarbeit für die Habilitation noch zu leisten war. Ich nahm allerdings im Wintersemester die Vorlesungen in der Dogmatik als Lehrstuhlvertreter auf; man gestattete mir, die Fundamentaltheologie noch ein Jahr aufzuschieben. Ich begann mit der vierstündigen Vorlesung über Gott; es war eine Freude, in diese grosse Frage und in den Reichtum der überlieferung vorzustossen; das begeisterte Mitgehen der Studenten half mir, die Doppelarbeit an der Vorlesung und an der Habilitationsschrift zu bestehen. Ende des Sommersemesters 1955 war das handgeschriebene Manuskript fertig; leider stiess ich auf eine Schreiberin, die nicht nur langsam war, sondern dann und wann Blätter verlor und meine Nerven durch ein übermass an Fehlern aufs äusserste strapazierte, besonders weil sich die Fehler in den zitierten Seitenzahlen ausbreiteten und der Kampf um die Richtigstellung und die Aufdeckung aller Irrtümer manchmal fast aussichtslos erschien. Im Spätherbst konnte ich die vorgeschriebenen zwei Pflichtexemplare endlich der Münchner Fakultät übergeben, mit deren graphischer Erscheinung ich allerdings alles eher als glücklich sein konnte.
Joseph Kardinal Ratzinger, Aus meinem Leben, 1998
Umzug nach Freising mit den Eltern
Da die Habilitation gesichert schien und die Wohnung auf dem Domberg auf einen neuen Bewohner wartete, schien uns allen richtig, Vater und Mutter nach Freising zu holen: So würden sie neben dem Dom wohnen, die Geschäfte waren nahe, und wir konnten noch einmal ein familiäres Zusammenleben aufbauen, zumal auch meine Schwester daran dachte, zu einem späteren Zeitpunkt eventuell nachzukommen. Der Umzug erfolgte am 17. November, einem nebelverhangenen Tag, dessen Melancholie sich von selbst auf die guten Eltern in der Stunde eines Abschied übertrug, der nicht nur Weggehen von einem Ort, sondern von einem Stück Leben bedeutete. Aber sie begannen mit Mut und Tatkraft. Kaum waren die Möbelträger angekommen, zog Mutter ihre Schürze an und arbeitete mit, abends stand sie schon am Herd und bereitete das erste Abendessen; Vater war ebenso mit Umsicht und Energie dabei, alles auf die rechten Wege zu leiten. Dass eine ganze Reihe von Studenten da waren und jede nur erdenkliche Hilfe leisteten, war eine wichtige Ermutigung: Man trat nicht in einen leeren Raum hinein, sondern in einen Zusammenhang von Freundschaft und gegenseitiger Zuwendung. Wir haben einen glücklichen Advent erlebt, und als an Weihnachten auch mein Bruder und meine Schwester kamen, war die fremde Wohnung wieder zu einem rechten Zuhause geworden.
Joseph Kardinal Ratzinger, Aus meinem Leben, 1998
Ablehnung der Habilitation
Wir alle wussten zu dieser Zeit noch nicht, welche Gewitterwolken über mir standen. Gottlieb Söhngen hatte die Habilitationsschrift sogleich gelesen, mit Enthusiasmus aufgenommen und sie mehrfach bereits in der Vorlesung zitiert. Professor Schmaus, der viel beschäftigte Korreferent, liess sie zunächst ein paar Monate liegen. Von einer Sekretärin wusste ich, dass er im Februar schliesslich mit der Lektüre begonnen hatte. Zu Ostern 1956 rief er erstmals die deutschsprachigen Dogmatiker zu einer Tagung nach Königstein zusammen, aus der dann die nun regelmässig tagende Arbeitsgemeinschaft der deutschen Dogmatiker und Fundamentaltheologen geworden ist. [...] Schmaus rief mich während der Königsteiner Tagung zu einem kurzen Gespräch zu sich, in dem er mir sachlich und ohne Emotion eröffnete, er müsse meine Habilitationsschrift ablehnen, da sie nicht den dabei geltenden wissenschaftlichen Massstäben genüge. Einzelheiten würde ich nach dem entsprechenden Fakultätsbeschluss erfahren. Ich war wie vom Donner getroffen. Eine Welt drohte für mich zusammenzubrechen. Was sollte aus meinen Eltern werden, die guten Glaubens zu mir nach Freising gekommen waren, wenn ich nun als Gescheiterter von der Hochschule gehen musste? Und meine ganze eigene Zukunftsplanung, die sich wieder ganz auf das theologische Lehramt gerichtet hatte, war dann gescheitert. Ich dachte daran, mich um die Kaplanstelle in Freising St. Georg zu bewerben, zu der eine Wohnung mit Haushalt gehörte, aber eine besonders tröstliche Lösung war das nicht.
Joseph Kardinal Ratzinger, Aus meinem Leben, 1998
Schlussendlich nicht abgelehnt, sondern zur Überarbeitung zurückgegeben
In der Fakultätssitzung, die sich mit meiner Habilitationsschrift befasste, muss es einigermassen stürmisch zugegangen sein. Schmaus konnte ich Gegensatz zu Söhngen auf starke Freunde im Kollegium zählen, aber das Verdammungsurteil wurde doch abgemildert: Die Arbeit wurde nicht abgelehnt, sondern zur Verbesserung zurückgegeben. (...) Damit war mir wieder Hoffnung gegeben, auch wenn Schmaus nach diesem Beschluss, wie mir Meister Söhngen berichtete, geäussert hatte, das Mass der erforderlichen Umarbeitung sei so gross, dass dafür Jahre nötig sein würden.
Joseph Kardinal Ratzinger, Aus meinem Leben, 1998
Überarbeitung und Annahme der Habilitation
So kam mir die rettende Idee. Was ich über die Geschichtstheologie Bonaventuras ausgeführt hatte, war zwar mit dem Ganzen meines Buches verwoben, aber doch einigermassen selbstständig; man konnte es ohne grosse Schwierigkeiten aus dem Werk herauslösen und zu einem in sich geschlossenen Ganzen gestalten. [...] Gottlieb Söhngen, dem ich meinen Plan vortrug, war sofort einverstanden. Leider war mein Terminkalender für die grossen Ferien schon weitgehend ausgefüllt, aber ich konnte immerhin noch zwei Wochen freimachen, in denen ich die nötige Bearbeitung bewerkstelligte. So war es mir möglich, bereits im Oktober das zurückgewiesene Opus in neuer, verkürzter Form der Fakultät – zum Erstaunen des Kollegiums – wieder auf den Tisch zu legen. Wieder folgten Wochen unruhigen Wartens. Endlich am 11. Februar 1957 erfuhr ich, dass die Habilitationsschrift angenommen war; die öffentliche Habilitationsvorlesung wurde auf den 21. Februar festgelegt.
Joseph Kardinal Ratzinger, Aus meinem Leben, 1998
Professor in Freising
Im Augenblick vermochte ich kaum Freude zu empfinden, so schwer lag der Alptraum des Vergangenen noch auf mir. Aber langsam löste sich die Sorge, die sich in mir festgesetzt hatte; ich konnte ja in Ruhe meinen Dienst in Freising weitertun und brauchte nicht mehr Angst zu hegen, ich hätte meine Eltern in ein trauriges Abenteuer gestürzt.
Bald darauf wurde ich zum Privatdozenten an Universität München ernannt, und zum 1. Januar 1958 erfolgte – nicht ohne vorangegangenes Störfeuer von interessierter Seite – meine Ernennung zum Professor für Fundamentaltheologie und Dogmatik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Freising. Das Verhältnis zu Professor Schmaus bleib begreiflicherweise vorerst gespannt, hat sich aber in den siebziger Jahren entkrampft und in Freundschaft gewandelt. Ich konnte zwar nach wie vor seine damaligen Urteile und Entscheide nicht für wissenschaftlich gerechtfertigt halten, habe aber erkannt, dass die Prüfung dieses schweren Jahres menschlich für mich heilsam war und sozusagen einer höheren Logik als der bloss wissenschaftlichen folgte.
Joseph Kardinal Ratzinger, Aus meinem Leben, 1998
Berufung nach Bonn als ordentlicher Professor
Am 15. April 1959 begann ich meine Vorlesungen nunmehr als ordentlicher Professor der Fundamentaltheologie an der Bonner Universität vor einer grossen Hörerschar, die mit Begeisterung den neuen Ton aufnahm, den sie bei mir zu vernehmen glaubte. Einstweilen wohnte ich noch im Theologenkonvikt Albertinum, und das war gut so für den Anfang: Ich nahm am ganz normalen Tagesablauf der Theologen teil und wuchs so auch schnell in ein ungezwungenes menschliches Miteinander mit meinen Hörern hinein. Stadt und Universität beigeisterten mich.
Joseph Kardinal Ratzinger, Aus meinem Leben, 1998
Tod des Vaters
Mitten in die heitere Stimmung des Aufbruchs [in Bonn] hinein, die mich durch all diese Monate begleitet hatte, fiel im August ein Paukenschlag von unerwarteter Wucht und Härte.
Mit meiner Schwester, die mit mir nach Bonn gegangen war und die mich auf allen Stationen meines Lebens bis zum frühen Tod im November 1991 treulich begleitete, war ich im August in unser neues Elternhaus in der mittleren Hofgasse zu Traunstein gefahren, wo Vater, Mutter und Bruder uns mit grosser Freude erwarteten. [...]
Mitte August 1959 wurde er [der Vater] nachts von einem heftigen Unwohlsein befallen, von dem er sich nur langsam erholte. Am Sonntag, dem 23. August, lud ihn Mutter zu einem Spaziergang an die alten Orte unseres Wohnens und unserer Freundschaften ein; sie gingen an diesem sommerlich heissen Tag mehr als zehn Kilometer miteinander. Als sie heimkamen, fiel Mutter auf, mit welcher Inbrunst der Vater bei einem kurzen Besuch in der Kirche betete und mit welcher inneren Unruhe er auf die Heimkehr von uns dreien von einer Fahrt nach Tittmoning wartete. Während des Abendessens ging er hinaus und brach dann oberhalb der Stiege zusammen. Es war ein schwerer Schlaganfall, dem er nach genau zwei Tagen des Leidens erlag. Wir waren dankbar, dass wir alle um sein Bett stehen und ihm noch einmal unsere Liebe zeigen konnten, die er dankbar annahm, auch wenn er nicht mehr zu sprechen vermochte. Als ich nach diesem Erleben nach Bonn zurückkehrte, spürte ich, dass die Welt für mich ein Stück leerer geworden war und dass ein Teil meines Zuhause in die andere Welt verlegt war.
Joseph Kardinal Ratzinger, Aus meinem Leben, 1998
Theologe am 2. Vatikanischen Konzil
Kardinal Frings hörte einen Vortrag über die Theologie des Konzils an, zu dem mich die Katholische Akademie Bensberg eingeladen hatte, und verwickelte mich hernach in ein langes Gespräch, das zum Ausgangspunkt einer über Jahre währenden Zusammenarbeit wurde. Als Mitglied der Zentralen Vorbereitungskommission des Konzils erhielt der Kardinal die Textentwürfe ("Schemata"), die den Vätern nach Einberufung der Kirchenversammlung zur Beratung und Abstimmung vorgelegt werden sollten. Diese Texte sandte er mir nun regelmässig zu, um von mir Kritik und Verbesserungsvorschläge zu erhalten. [...] Schliesslich war die grosse Stunde des Konzils gekommen. Kardinal Frings nahm seinen Sekretär Luthe und mich als seinen theologischen Berater nach Rom; er erwirkte, dass ich gegen Ende der ersten Sitzungsperiode auch zum offiziellen Konzilstheologen (Peritus) ernannt wurde.
Joseph Kardinal Ratzinger, Aus meinem Leben, 1998
Wechsel an die Universität von Münster
Inzwischen war eine schwierige persönliche Entscheidung auf mich zugekommen. Der grosse und mir trotz des Altersunterschiedes befreundete Münsteraner Dogmatiker Hermann Volk war im Sommer 1962 Bischof von Mainz geworden. Nun erging an mich den Ruf auf seinen Lehrstuhl. Ich liebte das Rheinland, ich liebte meine Studenten und meine Arbeit an der Universität Bonn; durch Kardinal Frings war ich noch zusätzlich dieser Aufgabe verpflichtet. [...] So wurde die scheinbar so einfache Entscheidung doch schwierig, aber nach allem Hin und Her entschloss ich mich, in Münster abzusagen. Es hätte das letzte Wort in dieser Sache sein sollen, aber ein Stachel war in mir zurückgeblieben, der nun schmerzte, als ich in der sehr spannungsgeladenen Bonner Fakultät mit zwei Promotionen auf erhebliche Widerstände stiess, die aller Wahrscheinlichkeit nach mit einem Scheitern für die beiden jungen Gelehrten endigen konnten. Ich dachte an das Drama meiner eigenen Habilitation zurück und sah in Münster den mir von der Vorsehung gewiesene Weg, den beiden helfen zu können. Das war um so einleuchtender, als auch in anderen Fällen noch ähnliche Schwierigkeiten zu erwarten standen, die ich in Münster bei der dortigen Konstellation nicht zu fürchten brauchte. Zusammen mit der vorher beiseite gelegten Argumentation von meiner grösseren Nähe zur Dogmatik wurden diese Gründe zu einer Macht, der ich mich beugte. Ich hatte darüber natürlich auch mit Kardinal Frings gesprochen und kann auch nachträglich für sein väterliches Verstehen und seine menschliche Grosszügigkeit nur dankbar sein. So begann ich im Sommer 1963 meine Vorlesungstätigkeit in Münster mit einer grosszügigen personellen und sachlichen Ausstattung. Die Aufnahme durch das Kollegium war überaus herzlich, die Bedingungen hätten kaum günstiger sein können. Aber ich muss gestehen, dass mir doch ein Heimweh nach Bonn, nach der Stadt am Strom, ihrer Heiterkeit und ihrer geistigen Dynamik geblieben ist.
Joseph Kardinal Ratzinger, Aus meinem Leben, 1998
Tod der Mutter
Das Jahr 1963 brachte aber auch noch einen weiteren tiefen Einschnitt in mein Leben. Schon seit Januar war meinem Bruder aufgefallen, dass Mutter immer weniger Speisen zu sich nehmen konnte. Mitte August erhielten wir vom Arzt die traurige Gewissheit, dass Magenkrebs vorlag, der nun recht schnell und unerbittlich seinen Weg nahm. Bis Ende Oktober führte sie mit letzter Kraft, schon zu Haut und Knochen abgemagert, meinem Bruder den Haushalt, bis sie beim Einkaufen in einem Geschäft zusammenbrach und dann das Krankenlager nicht mehr verlassen konnte. Wir haben bei ihr ähnliches wie bei Vater erlebt. Ihre Güte war noch reiner und strahlender geworden und leuchtete auch durch die Wochen wachsender Schmerzen unverändert hindurch. Am Tag nach dem Gaudete-Sonntag, dem 16. Dezember 1963, schloss sie für immer die Augen, aber das Leuchten ihrer Güte ist geblieben und für mich immer mehr zu einer Verifizierung des Glaubens geworden, von dem sie sich hatte formen lassen. Ich wüsste keinen überzeugenderen Glaubensbeweis als eben die reine und lautere Menschlichkeit, in die der Glaube meiner Eltern und so vieler anderer Menschen, denen ich begegnen durfte, hat reifen lassen.
Joseph Kardinal Ratzinger, Aus meinem Leben, 1998
Wechsel an die Universität von Tübingen
Vorerst aber stand für mich wieder eine persönliche änderung an. Ich hatte in Münster, wie schon gesagt, eine Aufnahme und eine Wertschätzung im Kollegium der Fakultät, einen Zuspruch der Hörerschaft und eine Ausstattung gefunden, wie ich sie mir besser überhaupt nicht wünschen konnte. Ich begann, diese schöne und noble Stadt immer mehr zu lieben, aber es gab doch einen negativen Aspekt: die übergrosse Entfernung von der bayerischen Heimat, an die ich innerlich zutiefst gebunden war und bin.
Es zog mich nach dem Süden. So war die Versuchung unwiderstehlich, als die Universität Tübingen, die mir schon 1959 den Lehrstuhl für Fundamentaltheologie angeboten hatte, mich nun auf den neu errichteten zweiten Lehrstuhl für Dogmatik berief. Hans Küng hatte sich mit Nachdruck für diese Berufung eingesetzt und dafür die Zustimmung auch der übrigen Kollegen gefunden. Ihn hatte ich 1957 auf der Dogmatiker-Tagung zu Innsbruck kennengelernt, gerade als ich meine Rezension seiner Doktorarbeit über Karl Barth abgeschlossen hatte. Ich hatte manche Frage an dieses Buch zu stellen, dessen theologischer Stil nicht der meine war, aber ich hatte es doch mit Genuss gelesen und Respekt für den Autor gewonnen, dessen sympathische Offenheit und Unkompliziertheit mir gefiel. [...] Im weiteren Fortgehen der theologischen und kirchlichen Entwicklung spürte ich, dass unsere Wege wohl noch weiter auseinandergehen würden, dachte aber doch, dass der grundlegende Konsens katholischer Theologen davon unberührt bleiben würde. [...] Ich fand das Gespräch mit ihm immer äusserst anregend, aber als sich die Richtung auf die politische Theologie hin abzeichnete, sah ich doch einen Gegensatz heraufziehen, der tief gehen konnte. Wie dem auch sei, ich entschloss mich, Tübingen anzunehmen – der Süden lockte, aber auch die grosse Geschichte der Theologie an diese schwäbischen Universität, in der ausserdem interessante Begegnungen mit bedeutenden evangelischen Theologen zu erwarten waren.
Bereits im Sommersemester 1966 habe ich dort meine Vorlesungstätigkeit aufgenommen, in ziemlich schlechtem Gesundheitszustand übrigens, nach den überforderungen der Konzilszeit, des Konzilsschlusses und dem anfänglichen Pendeln zwischen Münster und Tübingen. Einerseits empfand ich den Zauber der schwäbischen Kleinstadt sehr stark, andererseits war ich angesichts der nicht gerade üppigen räumlichen Ausstattung, in der alles ein wenig eng und sparsam erschien, nach der Grosszügigkeit von Münster doch ein wenig enttäuscht. Die Fakultät war hochrangig besetzt, aber konfliktfreudig, und auch das war ich nicht mehr gewöhnt; allerdings muss ich sagen, dass ich mit allen Kollegen zu einem guten Verhältnis gekommen bin.
Joseph Kardinal Ratzinger, Aus meinem Leben, 1998
Professor in Regensburg
Inzwischen war 1967 ein uralter Plan endlich Wirklichkeit geworden: Der Freistaat Bayern hatte in Regensburg seine vierte Landesuniversität errichtet. Gleich von Anfang an dachte man daran, mich für die Dogmatik zu gewinnen, aber ich winkte ab, nicht nur weil ich selber dem vom Ministerium eingesetzten Berufungsausschuss zugehörte und daher keine Interessenvermischungen dulden durfte, sondern auch, weil ich der Wanderschaft müde war und endlich auf eine Phase ruhiger Arbeit in Tübingen hoffte. [...] Als Ende 1968 oder Anfang 1969 ein zweiter Lehrstuhl für Dogmatik in Regensburg errichtet wurde, fühlte man erneut bei mir vor. Noch war ich Dekan, aber die zermürbenden Auseinandersetzungen, die ich in den akademischen Gremien erlebte, hatten meine Einstellung verändert; ich zeigte Bereitschaft. So erging 1969 der Ruf nach Regensburg an mich, den ich annahm, weil ich – ähnlich wie Wickert – meine Theologie in einem weniger aufregenden Kontext weiterentwickeln und mich nicht in ein ständiges Kontra hineindrängen lassen wollte. Dass mein Bruder in Regensburg wirkte und so die Familie wieder an einem Ort beisammen sein konnte, war ein weiteres Motiv für den neuerlichen Wechsel, der aber nun – das war mir klar – ganz entschieden der letzte sein musste.
Joseph Kardinal Ratzinger, Aus meinem Leben, 1998
Arbeitsjahre in Regensburg
Ich übrigen waren die Regensburger Jahre eine Zeit fruchtbarer Arbeit für mich. [...]
Das Gefühl, immer deutlicher eine eigene theologische Sicht zu gewinnen, war wohl die schönste Erfahrung der Regensburger Jahre. Ich hatte ein kleines Haus mit Garten bauen können, das meiner Schwester und mir ein rechtes Zuhause wurde, in dem mein Bruder immer gerne einkehrte. Wir waren wieder daheim.
Joseph Kardinal Ratzinger, Aus meinem Leben, 1998
Ernennung zum Erzbischof von München und Freising
Als am 24. Juli 1976 die Nachricht vom jähen Tod des Münchener Erzbischofs, Julius Kardinal Döpfner, über den äther ging, erschraken wir alle. Bald kamen Gerüchte auf, dass ich unter den Kandidaten für die Nachfolge sei. Ich konnte sie nicht sehr ernst nehmen, denn die Grenzen meiner Gesundheit waren ebenso bekannt wie meine Fremdheit gegenüber Aufgaben der Leitung und der Verwaltung; ich wusste mich zum Gelehrtenleben berufen. Die akademischen ämter – ich war nun wieder Dekan und Vizepräsident der Universität – bleiben im Bereich der Funktionen, die ein Professor übernehmen muss, und waren von der Verantwortung eines Bischofs weit entfernt. So dachte ich noch an nichts Schlimmes, als Nuntius Del Mestri mich in Regensburg unter einem Vorwand besuchte, über Belangloses mit mir plauderte und mir schliesslich einen Brief in die Hand drückte, den ich zu Hause lesen und bedenken solle. Er erhielt meine Ernennung zum Erzbischof von München und Freising. Dies wurde für mich ein unendlich schwieriger Entscheid. Mir war gestattet, meinen Beichtvater zu konsultieren. So eröffnete ich mich Professor Auer, der meine Grenzen – theologischer wie menschlicher Art – sehr realistisch kannte. Ich durfte erwarten, dass er mir abraten würde. Aber zu meiner grossen überraschung sagte er ohne grosses überlegen: Das musst Du annehmen. So schrieb ich zögernd, nachdem ich dem Nuntius noch einmal meine Bedenken vorgetragen hatte, unter seinen Augen auf das Briefpapier des Hotels, in dem er Wohnung genommen hatte, die Erklärung meiner Zustimmung.
Joseph Kardinal Ratzinger, Aus meinem Leben, 1998